Nachhilfepaar Jens und Anna aus Frankfurt bei der Nachhilfe

Bildungsgerechtigkeit durch kostenlose Nachhilfe – reicht das?

Sophia Hon von Sophia Hon am 17.10.2023 0

Hassan teilt sich mit seinem Bruder Hussein ein Smartphone für das Homeschooling. Marinas Mutter muss jedes Wort von Marinas Mathe-Hausaufgaben bei Google Übersetzer eingeben, um ihr dabei zu helfen. Nour hat kein WLAN in der Flüchtlingsunterkunft, sind die mobilen Daten aufgebraucht, kann sie nicht mehr beim Homeschooling teilnehmen. Mangelnde Geräte, fehlende Unterstützung der Eltern, kein Geld für Nachhilfe sind tägliche Probleme finanziell benachteiligter Schüler:innen. Kein Wunder also, dass arme Schüler in Deutschland viermal schlechtere Chancen haben, aufs Gymnasium zu kommen als reiche Schüler. Für Schüler mit Migrationshintergrund stehen die Chancen noch schlechter, sie haben fünfmal niedrigere Chancen auf eine Gymnasialempfehlung als solche mit deutschen Eltern.

Ein Verein, der sich dem entgegenstellen will, ist Studenten bilden Schüler. Der studentische Verein bietet in 56 Städten kostenlose Nachhilfe für über 1300 Schüler an, die sich diese ansonsten nicht leisten könnten. Die Studierenden arbeiten ehrenamtlich, unterstützen die Kinder nicht nur schulisch, sondern helfen auch bei beruflicher Orientierung oder haben einfach so ein offenes Ohr. Der Bundesvorsitzende des Vereins, Iwo Hasenkamp, ein 24 Jahre alter Student an der Uni Göttingen, fing 2019 als Nachhilfelehrer für ein Kind in der zweiten Klasse an.

Seit Iwo’s Start 2019 hat sich viel getan, nicht nur bei Iwo selbst, sondern auch im Verein. Durch die COVID-Pandemie musste der Verein auf Online-Nachhilfe umsteigen, Laptops und Tablets finanzieren, damit Schüler:innen am Homeschooling teilnehmen konnten. Eine schwierige Zeit, Iwo selbst sieht die COVID-Pandemie als Verstärker für Bildungsgerechtigkeit. „Kinder, die mehr von Bildungsungerechtigkeit betroffen sind, sind stärker von der Schule abhängig“, so Iwo. Das Auffangnetz Schule fiel zu großen Teilen durch die COVID-Pandemie weg.

Doch die Pandemie brachte auch Chancen: Viele Studierende dachten sich, scheiße ich muss was tun. „Unsere Anmeldezahlen für Nachhilfelehrer haben sich vervierfacht“, sagt Iwo. In dieser Zeit expandierte der Verein von 15 Standorten auf 34. Hoffnung sieht Iwo auch im Austausch mit anderen Initiativen, eigentlich gebe es in jeder Stadt kleine Organisationen, die sich jeweils um eine kleine Gruppe kümmert, seien es Migrationsberatungen, Vorlesegruppen oder Schulhelfer. Aber: „In einer idealen Welt sollte es Studenten bilden Schüler gar nicht geben.“

Denn im Verein gibt es ein klares Ungleichgewicht: Es sind über 600 mehr Schüler angemeldet als Studierende. Wartezeiten für Nachhilfe betragen teilweise mehrere Monate. Ehrenamtliche Vereine können dem Bedarf nicht gerecht werden. Es braucht Lösungen im System.

In Deutschland gibt es durch das Bildungs- und Teilhabegesetz kostenlose Nachhilfe für Schüler, deren Eltern Sozialhilfe empfangen, doch in der Realität, kommt diese Hilfe nicht immer an. Immer wieder kommen welche, die sagen, sie wurden vom Jobcenter abgelehnt.

Dazu kommt ein weiteres Problem: Viele Eltern haben zu viel Geld, um in das System von Sozialleistungen zu fallen, besitzen aber viel zu wenig Geld für teure Nachhilfe. Solche Familien fallen durch das Raster.

Nachhilfe ist zwar eine wirkungsvolle Maßnahme, um Schüler wieder auf den gleichen Stand zu bringen, doch letztlich nur eine Symptombekämpfung. Bildungsgerechtigkeit wird nicht dadurch erreicht, dass ehrenamtliche Studierende einmal die Woche Nachhilfe erteilen. Solange Lehrkräfte nicht dafür ausgebildet werden, Kinder mit Migrationshintergrund zu unterrichten, Schulpläne dafür ausgelegt sind, dass Kinder zuhause unterstützt werden oder Rassismus in der Bildung existiert, wird es Bildungsgerechtigkeit geben. Wie wenig Lehrkräfte für Kinder mit Migrationshintergrund oder arme Kinder sind, merkt Iwo in seinem eigenen Lehramtsstudium, nur ein einziges Seminar musste er zu Heterogenität im Klassenraum belegen.

Deutschlandweit ist die Ausbildung der Lehrkräfte sehr unterschiedlich geregelt, denn Bildung ist immer noch Ländersache. Unterschiede zeigen sich in der Ausbildung zu Deutsch als Fremdsprache: Obwohl alle Lehrkräfte Kinder unterrichten werden, die Deutsch als Fremdsprache lernen, müssen in manchen Bundesländern keine Kurse zu Deutsch als Zweitsprache belegt zu werden. Wie kann dann ein angemessener Unterricht für solche Kinder stattfinden? Das sind Fragen, die Iwo nicht beantworten kann und auch nicht soll. Er sorgt dafür, dass sein Verein läuft, dass die angemeldeten Kinder digitale Geräte haben und sich mit ihren Studierenden verstehen. Doch um das große gesamtgesellschaftliche Problem zu lösen, müssen andere Akteure heran.