Die panoptische Gesellschaft: Der Foucault'sche Poststrukturalismus

Dominik Geißler von Dominik Geißler am 28.11.2022 0

Übersicht


"Wir sind eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selbst in Gang halten - jeder ein Rädchen."

- Michel Foucault


Einleitung

Durch die immer weiter erarbeiteten Felder der wissenschaftlichen Beurteilung des Phänomen Mensch verliert die einstige Krone der Schöpfung nun immer mehr an Magie: Mehr und mehr Bereiche - wie etwa die Biologie, Medizin und Psychologie - gewinnen an Einfluss, die Beschreibung wird passgenauer und der Raum für Individualität weicht der Bestimmung einer rationalisierten Gesellschaft.

Da nun facettenreich ein Mensch beschrieben werden kann, ist es ebenfalls möglich, Menschen in normal und anormal zu unterteilen. Dies führt zu der Stigmatisierung Irrer und der Schaffung von Massengefängnissen: So schuf der englische Sozialphilosoph Jeremy Bentham das Panopticon, ein Gefängnis, welches sich durch seine Struktur gegenüber den vorherigen und heutzutage ebenfalls genutzten Ansätzen stark unterscheidet. In dieser Form der Strafsvollzugsanstalt werden die Zellen in Etagen rund um einen Turm angeordnet, welcher durch seine Position alle Zellen zu jeder Zeit überwachen könnte. Jedoch sind sowohl der Turm selbst als auch dessen Zugang von den Augen der Häftlinge versteckt, sodass nie eine Gewissheit bestehen kann, ob aktuell eine Überwachung vorliegt oder sich überhaupt jemand in dem Turm befindet. Das damit verbundene Ziel ist, durch die ständige Angst der Überwachung, welche aber niemals bestätigt oder revidiert werden kann, einen Druck in den Häftlingen zu erwecken, welcher das Verhalten insofern beeinflusst, dass davon ausgegangen wird, eine Beobachtung sei rund um die Uhr vorhanden.

Dieses panoptische Schema stellt neben der Konzeptionierung als Gefängnis auch einen Ausgangspunkt einiger Werke dar, am prominentesten ist hierbei Michel Foucault, ein französischer Philosoph. Foucault ist wohl einer der radikalsten und provokativsten Philosophen der vergangenen Zeit und der Richtung der Poststrukturalisten zuzuordnen, seine Werke sind jedoch aktueller denn je.

Wahnsinn und Gesellschaft

"[...] der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand."

Das hier erwähnte Zitat Foucaults prophezeit den Untergang der Menschheit. Dieser Untergang beschreibt hingegen nicht den physischen Untergang der Spezies etwa durch eine Umweltkatastrophe oder Krieg, nein, hiermit ist das lautlose Absterben der Individualität gemeint, somit also der psychische Tod. Dieser Tod, so Foucault, begann nach der Renaissance. Wohingegen vorher der Wahnsinn, dem Ablegen der gesellschaftlich proklamierten Rationalität, ein Teil des Lebens war, welcher durch etwa Hofnarren vertreten wurde, begann danach die große Gefangenschaft des Wahnsinns. Zuerst seien die danach nur als "Irren" bezeichneten Menschen aus der Gesellschaft entfernt worden, durch Umsiedlungen in die ehemaligen Lepra-Gebiete zum Beispiel, danach fing sich schnell an, eine Glaubensgrundlage zu manifestieren, welche die Stigmatisierung der Annormalität verfestigte. So schrieb Foucault

"Der Irre kann [...] nicht für sich wahnsinnig sein, sondern nur in den Augen eines Dritten, der allein die Vernunfttrübung von der Vernunft zu unterscheiden mag."

Zu sehen ist hier die Definition des Wahnsinns als menschengemacht, nicht als naturgegeben. Foucaults Wahnsinn ist im Naturzustand, also der bloßen Existenz ohne gesellschaftliche Züge, nicht vorhanden, da es immer eine gesellschaftlich und zeitlich geprägte Einstellung geben muss, welche die Definition von Wahnsinn festlegt. So wurden psychische Krankheiten früher beispielsweise als Besessenheit durch den Teufel beschrieben, was in unserer heutigen Wahrheitsgrundlage abstrus klingen mag.

"Die Diskurse der Geisteskrankheit [...] sagen uns nicht, was das Subjekt ist, sondern nur, was es innerhalb eines bestimmten, ganz und gar besonderen Wahrheitsspiel ist."

Die Geisteskrankheit ist demnach immer in Zusammenhang mit zeitlicher und gesellschaftlicher Prägung zu sehen und wird auch innerhalb dieser Episteme (Grundlage, welche Wahrheit festlegt) unterschiedlich behandelt. So werden die Aussagen, welche eigentlich das Individuum und dessen Erkrankung thematisieren sollen, nur die eigene Episteme umzeichnen. Das Individuum selbst steht hier im Hintergrund, da es nur als Gegenstand der Diagnose wahrgenommen wird, die der eigenen Episteme entspringt.

Diese Trennung von gesund und krank lassen sich auch als Dispositive bezeichnen, welche im Rahmen von Foucaults Werken eine große Rolle spielen. Solche Dispositive entstehen immer aus einer historischen Notsituation und stellen exklusive Glaubenssätze, also beispielsweise Charakteristika, welche nicht zutreffen sollen, dar. Foucault beschreibt sie weiter als "Ensemble aus Gesagtem und nicht Gesagtem" um auch die impliziten Anforderungen mit aufzufassen.

Je nach Episteme ist die Handhabung von psychischer Krankheit unterschiedlich. So wurden früher durch Exorzismen die Seelen der Kranken vermeintlich geheilt, während heute Medikamente oder Diagnosen die Quantifizierung des psychischen Leids darstellen. Jedoch, so Foucault, ist dies nicht anders, da die Vernunft als Zwang ein weiterführender Bestandteil der menschlichen Gesellschaft ist.

Überwachen und Strafen

"[...] das Ende des Menschen [...] ist nur [...] eine der sichtbaren Formen eines weitaus allgemeineren Sterbens. Damit meine ich [...] den Tod des Subjektes, des Subjektes als Ursprung [...] des Wissens, der Sprache und der Geschichte"

Auch unterscheidet sich die Handhabung der Strafe, welche früher im Wesentlichen aus körperlicher Peinigung bestand, um Abschreckung zu schaffen. Diese Strafen konnten willkürlich von den jeweils Herrschenden ausgeteilt werden.

Nach der Aufklärung wurde das Ziel der Strafe der Geist, die Macht wurde unkörperlicher. Heutzutage werden die Foltermethoden der früheren Zeit als babarisch angesehen, jedoch seien die heute angewandten Strafen nicht besser als die damaligen: Wohingegen früher eine große Verurteilung geschah, verurteilt heute nicht mehr nur das Gesetz. Es gibt eine Vielzahl an Richtern, welche in den immer weiter feiner getrennten Bereichen, wie Psychologie, Biologie und Medizin, immer mehr und dafür kleinere Verurteilungen fällen, die in ihrer Gänze das menschliche Wesen in einen durch die Gesellschaft vorgegebenen Zwang drücken.

Um viele Leute auf einmal zu bestrafen, welche nun nicht mehr auf einen Platz gestellt, sondern eingesperrt wurden, entwarf Bentham das Panopticon. Hierzu schrieb Foucault

"Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung"

Diese Überwachung ist hingegen laut Foucault ein immanenter Bestandteil der Gesellschaft, welche heute durch beispielsweise Kameras und das Internet immer mehr Oberhand gewinnen. Die unkörperliche Macht und die immer feiner definierten Bereiche, welche allesamt kleine Züchtigungstheater veranstalten, führen zu einem Menschen, welcher immer weniger Mensch ist.

Ein Beispiel für solche Dispositive ist das Social Credit System. Hier werden für als schlecht angesehene Taten, welche durch Kameras aufgezeichnet und mittels Face Tracking zugeordnet werden, Minuspunkte ausgeteilt, die zentral verwaltet werden. Dieser Datensatz umfasst alles, von einem weggeworfenen Platikbecher bis hin zu Steuerehrlichkeit. Folglich wird der Mensch das Prinzip der Unterwerfung, denn um nicht in Ungnade zu fallen, welches hier durch eine schlechte Punktzahl gegeben wäre, wird sofort ein Verhaltensmuster ausgeübt, welches in den Augen der überwachenden Instanz als positiv gewertet wird. Dies ist sehr ähnlich zu dem Gefängnis, in welchem die mutmaßliche Überwachung zu einer präventiven Verhaltensanpassung führt.

Der Poststrukturalismus

"Philosophie ist eine Bewegung, mit deren Hilfe man sich [...] von dem freimacht, was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht."

Die poststrukturalistische Tendenz sieht sich in Foucault darin, die erwähnten Dispositive als solche zu erkennen und zu überwinden. Im Vergleich zu dem Sprachphilosphen Ludwig Wittgenstein, welcher einer der prägensten Philosophen im 20. Jahrhundert und des Strukturalismus war, der das sehr bekannte Zitat "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt" verfasste, legt der Poststrukturalismus nahe, die Struktur (in diesem Fall die Dispositive) seien überwindbar. Auch wird ein gewisser Teil Foucaults Arbeit auf die Gesellschaft nach Überwindung spezifiziert, welches beim Strukturalismus nicht vorhanden ist. Die Dispositive zu überwinden, so Foucault, sei durch Einordnung und Benennung möglich, aber auch durch Werkzeuge, die Foucault selbst in Form seiner Werke gab.


"Der moderne Mensch ist sein eigener Gefängnisdirektor"

- Michel Foucault


Literaturhinweise

Hier fasse ich einige Literaturhinweise zusammen, welche bei einer eigenständigen Einarbeitung nützlich sein könnten.

Zuallererst sind natürlich Foucaults Bücher selbst zu nennen, hier wurde sich im Wesentlichen auf die beiden Bücher "Wahnsinn und Gesellschaft" und "Überwachen und Strafen" bezogen. Letzteres ist allerdings gerade in der der Einleitung sehr grafisch, die kann man jedoch überspringen.

Eine schöne Einleitung bietet Dr. Walther Ziegler in seinem Vortrag, auf welchem ein Großteil dieser Ausarbeitung beruht.